ADHS bei Mädchen und Jungen

ADHS bei Mädchen und Jungen

ADHS gilt als eine der häufigsten psychiatrischen Störungen im Kindes- und Jugendalter – sie betrifft nach aktuellen Schätzungen in Deutschland rund 5 % der Kinder und Jugendlichen. Jungen erhalten dabei zwei- bis viermal häufiger eine ADHS-Diagnose als Mädchen. Diese Zahlen sind jedoch kein zuverlässiger Hinweis auf eine tatsächliche geschlechtsspezifische Verteilung der Störung – vielmehr spiegeln sie Wahrnehmungs- und Diagnoseverzerrungen wider, die zu einer systematischen Unterdiagnostik bei Mädchen führen.

Gesellschaftliche und kulturelle Stereotype darüber, wie Mädchen und Jungen sich „typischerweise“ verhalten, beeinflussen die diagnostische Praxis stark. Während Jungen mit ADHS häufiger durch impulsives, hyperaktives oder oppositionelles Verhalten auffallen, zeigen Mädchen häufiger unauffälligere, internalisierende Symptome, etwa:

· Verträumtheit

· emotionale Labilität

· langsames Arbeitstempo

· Ängste oder depressive Verstimmungen

· Hohe Anpassungsfähigkeit, ausgeprägter Perfektionismus oder Zwanghaftigkeit.

Diese Symptome führen seltener zu einem störenden Verhalten im Klassenraum oder im sozialen Umfeld – entsprechend bleiben sie leichter unbemerkt oder werden falsch interpretiert (z. B. als emotionale Instabilität, Pubertätskrise oder depressive Verstimmung).

Fachleute sprechen deshalb bei ADHS im weiblichen Geschlecht auch von einer „hidden disorder“ – einer versteckten Störung.

Symptomatik: Gleiche Störung – unterschiedliche Ausprägung

=> Jungen mit ADHS

Jungen zeigen häufiger Symptome des hyperaktiv-impulsiven Typs oder des kombinierten Typs:

· ausgeprägte motorische Unruhe („Zappelphilipp“)

· Störung von Abläufen, Regelbrüche, Lautstärke

· impulsives Verhalten, geringe Frustrationstoleranz

· häufiger aggressives oder oppositionelles Verhalten

· frühzeitige Auffälligkeit im Kindergarten- oder Grundschulalter

Diese Symptome fallen Eltern, Lehrer*innen und Fachkräften schneller auf – und führen entsprechend häufiger und früher zu einer Diagnostik.

=> Mädchen mit ADHS

Mädchen hingegen präsentieren sich häufiger mit Symptomen des vorwiegend unaufmerksamen Typs:

· leichte Ablenkbarkeit, Konzentrationsprobleme

· häufiges Tagträumen

· Schwierigkeiten, Aufgaben zu strukturieren oder zu Ende zu bringen

· geringe Selbstwirksamkeit und niedriges Selbstwertgefühl

· emotionale Überreaktionen oder Rückzug

Die Symptome sind häufig subtil, werden selten als behandlungsbedürftig erkannt – oder sogar mit vermeintlich „typisch weiblichem Verhalten“ verwechselt (z. B. „verträumt“, „sensibel“, „schüchtern“).

Einige Mädchen und Frauen mit ADHS zeigen ebenfalls hyperaktive oder impulsive Verhaltensanteile, die sich jedoch häufig weniger deutlich motorisch, sondern eher verbal oder sozial manifestieren – beispielsweise durch übermäßiges Reden, häufiges Unterbrechen oder emotionale Impulsivität. Mitunter treten auch leichte motorische Unruhezustände auf, wie Fingernägelkauen, Haarezwirbeln oder das Spielen mit Schmuckgegenständen. Diese subtile Ausprägung kann leicht fehlinterpretiert und fälschlicherweise ausschließlich als Ausdruck von Angst oder Anspannung gewertet werden.

Komorbiditäten und Folgen einer unerkannten ADHS

Unabhängig vom Geschlecht ist ADHS häufig mit weiteren psychischen Störungen verbunden. Doch auch hier zeigen sich Unterschiede:

· Jungen mit ADHS haben häufiger externalisierende Komorbiditäten wie oppositionelles Verhalten, Störungen des Sozialverhaltens oder aggressives Verhalten.

· Mädchen mit ADHS zeigen häufiger internalisierende Begleiterkrankungen wie Angststörungen, Depressionen oder Essstörungen.

Zu beachten: Wird ADHS bei Mädchen nicht erkannt, steigt das Risiko für spätere psychische Belastungen deutlich. Studien zeigen ein erhöhtes Risiko für:

· chronisch niedriges Selbstwertgefühl

· Selbstverletzungen und Suizidgedanken

· emotionale Instabilität und Bindungsstörungen

· Abhängigkeitserkrankungen im Jugend- und Erwachsenenalter

Diagnostische Herausforderungen in der Praxis

Die klassischen ADHS-Diagnosekriterien (z. B. DSM-5 oder ICD-10/11) orientieren sich stark an Symptomen, die typischerweise bei Jungen beobachtet wurden. Sie berücksichtigen seltener die geschlechtsspezifischen Ausdrucksformen der Störung. Mehrere Studien zeigen, dass Mädchen erst dann häufiger diagnostiziert werden, wenn sie „männlich“ auffallen – also durch Hyperaktivität, Impulsivität oder oppositionelles Verhalten.

Auch Bias in der Bewertung durch Eltern und Lehrkräfte spielt eine Rolle: In Experimenten mit identischen Verhaltensbeschreibungen wurden Kinder mit männlichen Namen deutlich häufiger als behandlungsbedürftig eingeschätzt als Kinder mit weiblichen Namen.

Weitere Herausforderungen:

· Mädchen kompensieren häufiger ihre Symptome durch Anpassung oder Perfektionismus.

· Mädchen mit ADHS erhalten stattdessen häufig Diagnosen wie Depression oder Angststörung – die ADHS bleibt unerkannt.

· Selbst wenn eine Diagnose gestellt wird, ist die Symptomschwere oft bereits fortgeschritten.

FAZIT: Eine differenzialdiagnostische Abklärung sowie die Berücksichtigung geschlechtsspezifischer Unterschiede in der Diagnostik neurodivergenter Ausprägungen sind wesentliche Voraussetzungen, um bedarfsgerechte und individuell angepasste Behandlungsangebote zu ermöglichen. Daher sollte in der multiprofessionellen Versorgung verstärkt auf aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisse, kontinuierliche Fort- und Weiterbildungen sowie auf die Entstigmatisierung neurodivergenter Merkmale geachtet werden.

Literaturverzeichnis:

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Internet Blogs:

https://www.welt.de/gesundheit/article176886491/Maedchen-zeigen-bei-ADHS-andere-Symptome-als-Jungen.html

https://www.adhs.info/fuer-eltern-und-angehoerige/adhs-was-ist-das/

https://adhs-deutschland.de/adhs-adhs-ads/haeufigkeit#:~:text=Aktuellen%20Pr%C3%A4valenzsch%C3%A4tzungen%20zufolge%20sind%20in,als%20bei%20M%C3%A4dchen%20(1)

https://chadd.org/attention-article/the-gender-myths/

https://www.aok.de/pk/magazin/koerper-psyche/psychologie/adhs-bei-maedchen-bleibt-die-erkrankung-bei-ihnen-haeufiger-unentdeckt/

https://www.verywellhealth.com/do-adhd-symptoms-differ-in-boys-and-girls-5207995

https://health.clevelandclinic.org/adhd-symptoms-boys-vs-girls